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Der Geschichtenerzähler

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/// Walross (2015), Lindenholztafel, 83 cm, 6×73 cm, 8 cm /// David Marquardt ///

Ein Mann und eine Frau mittleren Alters stehen, vermutlich in der Nähe eines Strandes, nebeneinander. Er vergräbt seine Hände in seinen Hosentaschen. Sie dagegen hält ihre auf der Höhe ihrer Taille gefaltet. Vor ihnen liegt ein Walross, welches dem Betrachter zugewandt ist. Zwischen seinen Flossen fasst es einen scheinbar leblosen Körper eines Kindes. Eine tiefe Trauer geht von dieser Szene aus. Das vermeintliche Paar scheint ihr Kind zu betrauern. Ihre Köpfe sind in einer Art stillen Andacht gesenkt. Mit ihren geschlossenen Augen und ihren herabhängenden Mundwinkeln vermitteln sie dem Betrachter Bekümmertheit und Bedrückung. Immer mehr Fragen drängen sich diesem auf und wollen beantwortet werden: Drohte das Kind im Meer zu ertrinken? Versuchte das Walross dieses zu retten und kam dabei selbst ums Leben? Oder transzendiert die Seele des Kindes in den Körper des Walrosses, um so ewiglich weiterleben zu können? Sind Walross und Kind überhaupt in dieser Szenerie zugegen? Ist es möglich, dass es sich hierbei um die jeweiligen, verbildlichten Imaginationen, erschaffen durch die Vorstellungskraft der Eltern, handelt?

Fest steht, dass im Augenblick der Trauer beide Elternteile gemeinsam, aber dennoch für sich stehend, ihr gemeinsames Kind beweinen. Der Himmel ist in ein tiefes Dunkelrot getaucht. Obwohl eine absolute Windstille zu herrschen scheint, da sich weder Kleidungsstücke noch Haare einer Böe ergeben müssen, ist der rote Himmel durch tiefe Furchen wild aufgewirbelt. Ein starker Kontrast geht von ihm zum Erdboden aus, der nahezu unbehandelt und farblos bleibt. Leben bedeutet hier Farbe – der Tod hingegen Farblosigkeit. Als Vermittler zwischen diesen beiden Gegensätzen stehen, im wahrsten Sinne des Wortes, Mutter und Vater. Durch ihre teilweise farbige Kleidung stellen sie eine Verbindung, bzw. einen Übergang beider Kontraste her.

Es ist eine ungewohnte Szene einer Geschichte, die der Betrachter nicht sofort zu fassen weiß. Die Fragen nach einem möglichen Märchen oder einer christlichen Geschichte bleiben offen und regt diesen an, weiter in seinen Erinnerungen zu suchen. Assoziationen nordischer Sagen werden wach, verhallen aber im der eigenen Unwissenheit – gar Unsicherheit. Der Künstler David Marquardt spielt geradezu mit diesen Zeichensystemen und hält den Betrachter dazu an, sich auf diese andersartige Welt, die ihm doch so vertraut zu scheint, einzulassen. Was dieser zu interpretieren vermag, bleibt ihm gänzlich überlassen. Vielmehr konfrontiert Marquardt den Betrachter mit dieser Freiheit und der Möglichkeit, mit seinen Arbeiten in Interaktion zu treten, um den gezeigten Moment einer Geschichte weiterzuerzählen. Wichtig hierbei ist auch die Materialität Marquardts Arbeiten. Der Künstler schnitzt seine Motive in Holztafeln, sodass unterschiedliche Reliefs entstehen. Allerdings bleibt es bei dieser Ausgangssituation. Die entstandenen Reliefs werden nicht wie im bekannten Hochdruckverfahren zur Erlangung einer Grafik innerhalb des Holzschnitts weiter verarbeitet. Es bleibt beim geschnitzten Negativ als Ursprungs-gedanke und seiner oft martialischen Haptik. Neben den Holztafeln widmet sich der Künstler auch dem Werkstoff des Metalls, um beispielsweise Masken herzustellen, die an den berühmten, archäologischen Fund einer römischen Gesichtsmaske innerhalb des Gebietes der Varusschlacht (Kalkriese, Osnabück) erinnert. Die Leidenschaft des Narrativen zieht sich durch das gesamte Schaffen David Marquardts. Auch Fotografie und Film gehören zu seinem Repertoire des Erzählens – immer auf der Suche nach einer neuen Geschichte.

Weitere Informationen über den Künstler David Marquardt sind hier anzufinden.

Aktuell kann die Ausstellung „Keine zehn Pferde“ (15.06.2016 – 15.08.2016), welche das „Hallenbad – Kultur am Schachtweg“ (Kunstschaufenster) zeigt, in Wolfsburg besucht werden.

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